Tenet

Tenet

Von Michael Kathe

Da haben James Bond und Ethan Hunt vergleichsweise einfache Jobs. Wenn Christopher Nolan einen Agentenfilm dreht, müssen die Protagonisten nicht nur körperlich was drauf haben, sondern auch geistig. Mit INCEPTION hatte Christopher Nolan ja bereits vor 10 Jahren einen außergewöhnlichen Spionagefilm gedreht. Mit TENET zeigt er zum zweiten Mal, wie man heute einen Spionagefilm drehen kann, der nicht ausschließlich die längst totgefahrenen James-Bond- und MISSION IMPOSSIBLE-Patterns durchexerziert.

In TENET ist die Aufgabe eines CIA-Agenten (gespielt von John David Washington), „etwas Schlimmeres“ als den nuklearen Winter zu verhindern. Was das bedeutet, wird erst im Verlauf des Films klar, erst einmal wird die Dimension erläutert, in der sich der Kampf abspielt: Es gibt Objekte, die aus der Zukunft stammen. Es gibt die Möglichkeit, die Zeit rückwärts zu durchschreiten und Ereignisse von der anderen Seite der Zeit anzugehen. Das führt zu irrwitzigen, komplizierten, aber dramatischen, packenden Actionszenen (in den verschiedensten zeitlich funktionierenden Varianten) – und gar zu so verrückten Begebenheiten wie einem „temporalen Zangenangriff“, bei dem eine Truppeneinheit aus der Realzeit angreift und die zweite aus der invertierten Realzeit. Wie immer bei Nolan wird das als visuelles Spektakel inszeniert. Wie es sich für einen Agentenfilm gehört, in großartigen Szenerien rund um die Welt.

Schon in der Eingangsszene: Eine terroristische Einheit überfällt die Oper in Kiew. Das Konzert beginnt gerade im riesigen, modernen Prachtgebäude. Klassische Musiker werden erschossen, Celli und Violinen zertrampelt, schließlich wird das gesamte Publikum mit großem Gaseinsatz in Bewusstlosigkeit getaucht. Sprich: Wir sind in der geheimen Welt der Agenten angekommen, in der das gemeine Volk eingelullt von nichts eine Ahnung hat und nichts mitbekommt. Dann beginnt das seltsame: Gegenangriff einer kleinen CIA-Einheit, die sich – getarnt – einen Informanten im Publikum sichert und ein kleines Objekt. In manchen Szenen scheinen Dinge rückwärts abzulaufen.
Dass der Einsatzleiter, der namenlos bleibende Protagonist John David Washington, geschnappt wird und während der Folter eine Zyankalitablette schluckt, aber später wieder lebt, verwundert nur deshalb nicht, weil er ja der Protagonist des Films ist. Die Erklärung folgt später, wie mit vielen eigentlich merkwürdigen Plot-Details. Nolan füttert die Zuschauer immer mit genau so viel Informationen, dass man der Story knapp folgen kann und die Spannung in jedem Fall bestehen bleibt. Auch wenn beim ersten Sehen dann doch einiges zu schnell geschieht. TENET ist einer jener Filme, die man nachher mit Freunden Szene für Szene durchdiskutieren und die Zusammenhänge aufarbeiten kann.

Im Zentrum steht dabei natürlich der Aufhänger des Films. Objekte können in Zukunft vom Menschen in ihrer Kausalität umgekehrt werden, so dass sie zeitlich umgekehrt „funktionieren“: Eine Pistolenkugel wird nicht abgeschossen, sondern vom Pistolenlauf aufgefangen. Die gefundenen Objekte aus der Zukunft weisen auf einen künftigen Weltkrieg hin. Der Geheimauftrag „Tenet“ führt unseren CIA-Agenten nach Mumbai zu einem Waffenhändler, der schwer bewacht in einem Hochhaus lebt. Zusammen mit dem britischen Spion Neil (Robert Pattinson) dringt er zum Waffenhändler vor bzw. zu dessen Frau Priya (Dimple Kapadia), die sich als eigentliche Anführerin entpuppt und ihn über den russischen Oligarchen Andrei Sator (Kenneth Branagh) informiert. Sator, soviel ist schnell klar, ist der eigentliche Bösewicht und wird von Kenneth Branagh kongenial verkörpert. „Sator“ klingt ja auch beinahe wie Satan, und tatsächlich sind Wort- und Zahlenrätsel eine weitere Leidenschaft Nolans, mit der man sich gern beschäftigen kann. Das sogenannte „Sator-Quadrat“ wurde erstmals in Pompej entdeckt und besteht aus den Wörtern „sator“, „arepo“, „tenet“, „opera“, „rotas“, die man untereinander geschrieben alle vorwärts und rückwärts lesen kann. „Tenet“, das mittlere Wort, liest sich sogar von beiden Seiten gleich. Was die lateinischen Wörter bedeuten und wie sich das in den Film einfügt, lässt sich auf Wikipedia und Tenet-Fanpages weiterspinnen, erwähnt seien noch die zehn Minuten des bereits erwähnten temporalen Zangenangriffs: „Ten“. Und rückwärts „Net“.

Mehr sei nicht verraten, außer, dass der zweieinhalbstündige Film ein wahres Spektakel bietet an atemberaubenden Locations vom riesigen Meeres-Windpark bei der dänischen Insel Lolland über die romantische Amalfiküste bis hin zur geschlossenen, verlassenen russischen Stadt Stalsk-12. Mit unglaublichen Bildern von Flugzeugunfällen und Autoverfolgungen, die zu verschiedenen Zeiten des Films aus verschiedenen Zeitperspektiven gezeigt werden. Die Musik mit ihren dramatisch ruckelnden Synthiearpeggios und den ständig wie Alarmsirenen dazwischen dröhnenden Synthesizern mit ungleich eingestellten Oszillatoren schraubt das Spannungslevel einige Grade höher als bekannte „klassisch“ orientierte Action-Soundtracks. Ein konventionelles Melodiemotiv sucht man vergebens in diesem Industrial-Soundgewitter, doch Ludwig Goransson, der den Nolan-Regular Hans Zimmer ersetzte, erschuf ein großartiges dramatisches Soundscape. (Aber natürlich wird auch über die Musik, wie über so vieles in Nolan-Filmen, gern gestritten). Ohne Hans Zimmer (der an Denis Villeneuves DUNE arbeitet) steigt Michael Caine zum beständigsten wiederkehrenden „Mitarbeiter“ der Nolan-Family auf: In seiner sechsten Rolle in einem Nolan-Film spielt der alte Harry-Palmer-Darsteller passenderweise einen Agenten.

Und auch eine smarte Besetzung: Nolan vergibt mit John David Washington einem Schwarzen die Hauptrolle, einer Frau (Pryia) die Position einer bedeutenden, aber „guten“ Waffenhändlerin (die ihren Job aber nur hinter der Fassade ihres Mannes durchführen muss). Lediglich der böse Russe Sator hat sich eine klassische Blondine geschnappt (Elizabeth Debicki), die auch – klassisch Bond-like – leiden muss und keinen wirklichen Dienst am Feminismus leistet. „Sagen Sie nur, ob Sie mit meiner Frau geschlafen haben?“ fragt er den Protagonisten als erstes – und wir kennen bereits seine Achillesferse – auch die typisch Bond.

Das Loblied gilt auch nicht einem TENET, der die Welt des Agentenfilms völlig neu erfindet. Vielmehr gibt er durch den SciFi-Aufhänger der Zeitveränderung und deren visuell-dramaturgisches Konzept dem Bond-Konzept einen Adrenalinstoß. Da mag man auch verkraften, dass es sich beim Protagonisten des Films um einen US-Agenten handelt und der britische lediglich ein Sidekick ist. Der Brite Bond hat auch politisch interessantere Connections hergestellt. Ach, und der Bösewicht ist Russe, noch kein Chinese (dürfte aber nur eine Frage der Zeit sein). Da bleibt der Film eben starr.

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Tenet, USA / UK 2020 | Regie, Drehbuch: Christopher Nolan | Musik: Ludwig Göransson | Kamera: Hoyte van Hoytema | Schnitt: Jennifer Lame | Darsteller: John David Washington, Rober Pattinson, Elizabeth Debicki, Kenneth Brannagh, Dimple Kapadia, Aaron Taylor-Johnson, Clémence Poésie, Michael Caine | Laufzeit: 150 min.

Anbieter: Warner Home Video