Siberia

Siberia

Von Philipp Schwarz

SIBERIA erteilt Willem Dafoe einen Heilsbefehl, und der schreitet fortan durch eisige Gebirge und sengend heiße Wüsten. Für Abel Ferrara ist Selbstfindung ein heroisches Unterfangen.

„Du hast deine Seele verloren. Geh und finde sie!“ Mit diesen donnernden Worten wird Clint (Willem Dafoe) auf die Reise geschickt. Aus einer inneren Ahnung heraus hatte er seine Hütte tief in den verschneiten Bergen des hohen Nordens verlassen, hatte die Schlittenhunde eingespannt, war steile Hänge hinaufgeklettert und in die Tiefen einer dunklen Höhle eingedrungen. Dort war über einem kleinen unterirdischen See eine lodernde Sonne aufgegangen und eine kosmische Macht hat sich in Form von Clints eigenem Spiegelbild an ihn gewandt, hat aus den Wassern zu ihm gesprochen und ihm dann das gegeben, wonach er gesucht hat: kein Heilsversprechen, sondern einen Heilsbefehl.

Selbstfindung ist in Abel Ferraras SIBERIA keine Befriedigung eines persönlichen Bedürfnisses, kein individuelles Streben nach Zufriedenheit und Stabilität, sie ist ein heroisches Unterfangen, die Erfüllung einer von außen auferlegten Aufgabe. Der Befehl lässt den Wunsch zum Zwang werden und verwandelt die intensive Beschäftigung mit dem eigenen Ich in einen selbstlosen Akt. Das eigene Innenleben wird zur äußeren Landschaft, zu einer ganzen Welt, die man durchschreiten, mit der man ringen, die man bezwingen kann. So wandert Clint durch verschiedene Erdteile, die alle nur zu existieren scheinen, um seine spirituelle Reifung zu ermöglichen – als so viele Etappen seines Weges zur Erlösung. In den Höhlen eines eisigen Gebirges trifft er auf seinen Vater (oder zumindest auf dessen traumartiges Nachbild), in der sengend heißen Wüste findet er Zuflucht in den Zelten eines Nomadenstammes und in einem dichten Märchenwald sucht er einen Zauberer auf, der ihn in die dunklen Künste einweihen soll, der ihm aber stattdessen das Tanzen beibringt.

In der Fülle dieser unheimlichen Visionen, diffusen Prüfungen und allegorisch aufgeladenen Begegnungen bekommt SIBERIA schnell etwas Strenges, Abweisendes, fast Mittelalterliches. Die einzelnen Stationen werden zu Exerzitien, zu spirituellen Übungen, die man eben durchlaufen muss, um auf dem Weg zu einem vorgegebenen Ziel voranzukommen – egal, ob man den genauen Sinn dieser Übungen nun nachvollziehen kann oder nicht. Clints Suche nach dem Seelenheil wird fast jeder Spezifik beraubt, sie hat keinen wirklichen Anlass, sie macht keine erkennbaren Fortschritte, sie erleidet keine eindeutigen Rückschläge und selbst durch ständiges Umkreisen werden den einzelnen Motiven keinerlei neue Aspekte entlockt.

Aber gerade diese Reduktion verleiht dem Film, bei allem Leerlauf, dann doch einen faszinierenden Kern: Ferrara verlangt von uns nicht, mit seiner Hauptfigur mitzuleiden, er führt Clints Leben nicht als ein exemplarisches Schicksal vor, in dem wir uns wiederfinden und an dem wir emotional Anteil nehmen sollen. Bei dieser Sinnsuche wird nichts gelernt, nichts aufgearbeitet, nichts überwunden – sie wird ganz auf ihre nackte Struktur, auf die ihr innewohnende Bewegung zurückgeführt. Die Erlösung ist in SIBERIA zu einem rein mechanischen Phänomen geworden.

Aber jeder mechanische Vorgang trägt den Impuls in sich, sich ewig fortzusetzen: Eine Maschine ist gemacht, um zu laufen. So scheint sich auch Clint selbst gar nicht wirklich nach einem Abschluss seiner Suche zu sehnen, ja, er scheint sich jeder Entwicklung, die den reibungslosen Fortgang seiner Reise stören könnte, aktiv zu widersetzen. So ist etwa eine klassische Wegmarke jeder Erlösungsgeschichte die Abrechnung mit der eigenen Schuld und dem eigenen Fehlverhalten. Tatsächlich findet sich auch Clint auf seiner Reise plötzlich in einem schummrigen Wohnzimmer wieder, im Angesicht einer Frau, die anscheinend dereinst einmal seine Ehefrau war.

Mit festem Blick schildert ihm diese Ex-Frau, wie schmerzvoll es war, als Clint sie und ihr gemeinsames Kind vor vielen Jahren verlassen hat. Aber anstatt sich dem Leid, das er anderen angetan hat, zu stellen, weist Clint nur wiederholt und stets mit denselben Worten jede Schuld von sich: „Das einzige, dessen ich schuldig bin, ist, dich zu sehr geliebt zu haben.“ Folglich endet die Szene auch nicht mit einer Läuterung, stattdessen kommt es zu einer Art transzendentalem Koitus: Clint umfasst einen nackten Frauenkörper, der eine Reihe von Verwandlungen durchläuft, der Form, Alter und Ethnie wechselt und dabei aber stets dieselbe, lusterfüllte Bewegung vollzieht. Spirituelle Sehnsucht wird hier wieder zurückverwandelt in egoistische Lust, und die heroische Suche nach Sinn und Seelenheil offenbart einen ganz prosaischen Nutzen: Man darf endlich müssen, was man vorher nur gewollt hat.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erschienen auf critic.de

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Siberia, Italien / Deutschland / Mexiko 2020 | Regie: Abel Ferrara | Drehbuch: Abel Ferrara, Christ Zois | Musik: Joe Delia | Kamera: Stefano Falivene | Darsteller: Willem Dafoe, Dounia Sichov, Simon McBurney, Cristina Chiriac, Daniel Giménez Cacho, Fabio Pagano, Anna Ferrara, Phil Neilson, Laurent Arnatsiaq, Valentina Rozumenko, Trish Osmond, Stella Pecollo | Laufzeit: 92 Min.