The Wild Boys

The Wild Boys

Von Michael Kathe

Wie soll man fehlgeleitete, delinquente Jungs umerziehen? THE WILD BOYS macht einen überraschenden Vorschlag, der uns in die Tiefen einer surrealen Welt führt … aber der Reihe nach.
THE WILD BOYS ist schlichtweg faszinierend. Ein seltsam verstörender wie poetischer Film, in den man hineingezogen wird, in dem die Künstlichkeit dominiert und sich das Medium Film von seiner lustvollsten Seite zeigt. Auch wenn der Plot selbst eher dunkle Seiten der Sexualität beleuchtet.
Tanguy (Anaël Snoek) lebt auf der Insel La Réunion und stammt, wie seine vier Gangfreunde, aus wohlhabender Familie. Trotzdem sind die Jungs an Schläge gewöhnt, offenbar althergekommen erzogen – schließlich spielt der Film in einer unbestimmten Epoche vor dem 20. Jahrhundert – ganz im Gegensatz zu William S. Burroughs’ Romanvorlage, einem Science Fiction Roman. Die fünf Jungs vergewaltigen und foltern ihre Literaturlehrerin in einem Maisfeld, maskieren sich dazu («als wären wir eins geworden mit unseren Masken») und hantieren mit Pavianblut herum.
Doch die Gewalttat kommt vor Gericht. Die Off-Stimme Tanguys bleibt jedoch cool: «Es gab einen Schauprozess, bei dem wir logen.» In einem schwarzen Raum ohne sichtbare Wände und inmitten von Rauchschwaden geben die Jungs einzeln ihre abgesprochenen Geständnisse ab. Indem sie den Mord als Unfall abtun und impertinenterweise erst noch behaupten, die Lehrerin habe sie manipuliert und missbraucht, entkommen sie dem Gefängnis. Doch wo die Justiz nicht greift, da greifen die Eltern ein: Sie vertrauen die Jungs einem niederländischen Schiffskapitän an, der verspricht, sie auf einer Schiffsreise umzuerziehen.
Die Resozialisierung von Jugendlichen auf Segelschiffen ist zwar ein bekanntes Prinzip, doch auf dem Schiff, das «Cold World» heißt, wird eine ganz andere Reise angetreten. Die Jungs sind am Hals angeleint «wie Hunde». Immer wieder werden sie gezwungen, seltsame Früchte zu essen. Sexualität und Gewalt sind omnipräsent. Farbige Traumbilder von Männern mit Brüsten schleichen sich in den Schwarzweiß-Film ein. Die Reise führt auf eine phantastische Insel.
Unter einem faszinierenden, kindlich-geisterhaften Soundtrack von Pierre Desprats erkunden die Jungs die Insel mit verbundenen Augen, bis sie eine Pflanze entdecken, die wie ein Penis aussieht und deren Milch sie trinken. Die Insel hat es in sich. Bestätigt uns auch die ominpräsente Off-Stimme, die das Traumartige des Films unterstützt: «Die Freuden waren maßlos auf dieser Insel.» Nach der Vergewaltigung auf La Réunion und den Entsagungen, Masturbationen und dem Gewaltsex auf dem Schiff werden die Jungs nun von einer Insel völlig eingenommen, in der Sex blüht und in Hülle und Fülle vorhanden ist. Ein Schlaraffenland des Sexus mit Pflanzen, die man ficken kann. Und das machen die Jungs auch gleich. Alles scheint auf einmal mellow und weich. Ihre Unterkörper stecken in den Blüten übergroßer Blumen und die Glückseligkeit ist ihnen anzusehen (den Jungs, nicht den Pflanzen!). «Als wäre eine Halluzination wahr geworden … die schönste aller Halluzinationen.»
Was weiter passiert, soll hier offen bleiben. In einer Welt, in der Authentizität und Realismus im Kino einer zu großen Künstlichkeit seit Jahrzehnten den Garaus gemacht hat, wirkt THE WILD BOYS wie eine wunderbare Wiederkehr des Surrealismus. Dass Regisseur Bertrand Mandico im Beiheft der vorliegenden Blu-Ray/DVD-Mediabox Fassbinders QUERELLE oder Mario Bava als Vorbilder nennt, trifft lediglich den ästhetischen Teil der artifiziellen Ästhetik. Faszinierend ist ebenso die surreale, scheinbare Unlogik der Handlung, die sich an Vorbildern wie Luis Bunuel oder der Idee des «Nouveau Roman» von Alain Robbe-Grillet orientiert, der weder Wirklichkeiten spiegeln, noch allzu klare Botschaften vermitteln will. Genau so geht THE WILD BOYS vor: Das große Thema des Films – Sexualität – wird gewalttätig, androgyn, homoerotisch, zärtlich, delirierend, transzendierend behandelt … und wie heißt es, wenn man Sex mit Pflanzen hat? Natürlich lässt sich über einen Film wie THE WILD BOYS trotzdem viel sagen und schreiben, denn nicht zuletzt zapfen Bunuel, Robbe-Grillet und Mandico den Strom des Unterbewusstseins an und erzählen damit – trotz vermeintlicher Unlogik – Geschichten, die uns alle faszinieren und berühren. Zu Recht hat die angesehene französische Filmzeitschrift Les Cahiers du Cinema den Film zum besten des Jahres 2018 erhoben.
Wer den Film sehen will, sollte das mit der Mediabox von Bildstörung tun. Den Film gibt es in voller Schwarzweiß-Pracht und den punktuell eingesetzten Farbszenen (die umso mehr flashen) auf Blu-ray. Auf der zusätzlichen DVD finden sich sehr schöne und mit genauso origineller Filmmusik untermalte Deleted Scences. Tatsächlich setzt sich der visuelle Trip hier fort: wie gebannt starrt man auf die faszinierenden Bildwelten (hier: meist farbig), selbst wenn sie ganz anderen (Neben-) Geschichten entnommen sind – als würde hier die Story forterzählt. Ein professionelles «Behind the scenes»-Filmchen gibt es nicht auf der DVD – aber es gibt eins. Der Reiz des vorliegenden «Behind the scenes» liegt darin, dass Schauspielerin Elina Löwensohn einen kleinen Super-8-Film drehte, mehr als persönliches Tagebuch denn als professionelles Making-of. Leider erzählt sie uns etwas wenig dazu, so dass wir oft nur eine Aneinanderreihung von Schwenks sehen. Nicht zuletzt – und das macht den Wert der Zusatz-DVD aus – kann man weiter in die faszinierende Welt von Regisseur Bertrand Mandico eintauchen, indem man vier seiner (inzwischen) neunzehn Kurzfilme zu Gesicht bekommt. Auch die lohnen sich.

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Les garçons sauvages | Frankreich 2017 | Regie, Drehbuch: Bertrand Mandico | Musik: Pierre Desprats | Kamera: Pascale Granel | Darsteller: Vimala Pons, Diane Rouxel, Anaël Snoek, Mathilde Warnier, Pauline Lorillard, Sam Louwyck, Elina Löwensohn u.a. | 110min.

Anbieter: Bildstörung