Special - Ein besonderes Leben

Special – Ein besonderes Leben

Von Oliver Schäfer

Man mag über Netflix denken, was man will, aber was Diversität und Inklusion betrifft, dürfte es kaum ein anderer Anbieter mit Netflix aufnehmen können. Ohne groß nachdenken zu müssen, fallen mir gleich Serien wie SENSE8, SEX EDUCATION, ATYPICAL, RUSSIAN DOLL, DEAR WHITE PEOPLE, THE OA oder 13 REASONS WHY ein.

Special_PosterMit SPECIAL legt Netflix nun eine originelle Kurzserie vor, deren schwule Hauptfigur unter Zerebralparese leidet (wie Walter Whites Sohn in BREAKING BAD) und somit als homosexueller Behinderter die Zugehörigkeit zu gleich zwei Minderheiten in sich vereint. Basierend auf seiner Autobiografie “I’m Special: And Other Lies We Tell Ourselves” hat Autor/Produzent/Hauptdarsteller Ryan O’Connell hier eine Serie konzipiert, die in acht etwa viertelstündigen Episoden mal amüsant, mal schreiend komisch, mitunter auch ergreifend ein in Wirklichkeit gar nicht so besonderes Leben beschreibt.

Dieses Leben fand bisher im Haus seiner Mutter statt, doch Ryan beschließt, dass er mit Anfang 30 endlich auf eigenen Beinen stehen muss – auch wenn er dabei gelegentlich ins Stolpern kommt.

Special_4Gleich in der ersten Folge wird Ryan von einem Auto angefahren. Als er kurz darauf ein Praktikum bei der Bloggerplattform Eggwoke beginnt, führt ein Missverständnis dazu, dass die neuen Kollegen glauben, seine körperlichen Einschränkungen wären die Folge des Autounfalls. Plötzlich wird er ganz anders behandelt, als er das bisher gewohnt war, wenn der wahre Grund für seine Behinderung thematisiert wurde. Also lässt er die Kollegen in ihrem Glauben und schreibt sogar eine Story dazu, die sich im Verlauf der Serie zur erfolgreichsten Story des Magazins mausert.

Daraus ergeben sich in den einzelnen Folgen immer wieder Verwicklungen und neue Notlügen, bis er sich sozusagen zu einem Coming Out der etwas anderen Art entscheidet. Nebenbei versucht er, seine Jungfräulichkeit loszuwerden, Freundschaften zu schließen und sich von seiner überfürsorglichen Mutter Karen (großartig: Jessica Hecht – PERSON OF INTEREST) abzunabeln, die nach Ryans Auszug eine neue Beziehung mit dem Nachbarn Phil (Patrick Fabian – BETTER CALL SAUL) eingeht, aber ihrem Sohn nichts davon erzählt, was zu weiteren Missverständnissen führt.

Special_1Nebenbei behandelt die Serie aktuelle Reizthemen wie Rassismus oder Bodyshaming und nutzt ihre Nebenfiguren dabei nicht nur als Stichwortgeber, sondern als durchaus prägnant gestaltete Charaktere.

Besonders im Zusammenspiel mit der übergewichtigen und finanziell stets klammen Kollegin Kim (ganz wunderbar schlagfertig gespielt von Punam Patel – KEVIN FROM WORK) oder bei einem üblen Streit mit seiner Mutter kommt Ryan selbst keinesfalls als strahlender Held daher. Nein, er hat auch seine Fehler, ist mal egoistisch, mal ungerecht und rechthaberisch – und von sich selbst unangenehm überrascht, als er bei einem Date mit einem anderen Behinderten plötzlich eigene Vorurteile feststellen muss. Die Zugehörigkeit zu zwei Minderheiten macht ihn nicht automatisch zu einem besseren Menschen.

O’Connell scheint es weniger darum zu gehen, sich selbst und seine Situation als etwas Besonderes darzustellen, sondern eher darum, die Perspektive des Zuschauers zu verändern. Dabei überspitzt er natürlich viele Situationen, schafft aber auch einige überraschend einfühlsame Momente, wie z.B. seinen Besuch bei einem hübschen Escort, mit dem er seinen ersten Sex hat. Trotz ihrer Slapstick-Momente lebt diese recht lange Sequenz von einer entwaffnenden Unbeholfenheit, die vielleicht manchen Zuschauer, ganz unabhängig von der eigenen sexuellen Orientierung, an das eigene erste Mal erinnert. Andere kurze Momente, wie sein Unvermögen, die Schnürsenkel seiner neuen Sneakers zu binden, machen die täglichen Kämpfe mit dem eigenen Körper deutlich, ohne platt auf die Tränendrüse zu drücken.

Special_2Neben seiner eigenen Darstellung hat O’Connell sich mit einem talentierten Ensemble umgeben. Herausragend sind dabei die bereits erwähnten Jessica Hecht als Ryans Mutter Karen und Punam Patel als seine Kollegin Kim. Ebenso einprägsam ist Marla Mindelle als Ryans und Kims Chefin Olivia, eine herrlich überzogene Ausgeburt der schnöseligen Vorgesetzten-Hölle.

Regisseurin Anna Dokoza legt ein gutes Tempo vor und Autor O’Connell hat seinen Figuren aus dem Leben gegriffene Dialoge in den Mund gelegt. Technisch ist alles professionell angerichtet, auch wenn die Einfachheit der Schauplätze und die Kürze der Folgen eher an eine Webserie erinnern. Das tut der Gesamtqualität allerdings keinen Abbruch und ich habe mich bestens unterhalten, ohne dass mir mit dem erzieherischen Zeigefinger vor dem Gesicht herumgewedelt worden wäre.

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Special, USA 2019 | Created by: Ryan O‘Connell | Regie: Anna Dokoza | Drehbuch: Ryan O‘Connell | Musik: Joshua Moshier | Darsteller: Ryan O’Connell, Jessica Hecht, Punam Patel, Marla Mindelle, Augustus Prew, Patrick Fabian, Brian Jordan Alvarez, Kat Rogers, Jason Michael Snow | 8 Folgen zwischen 12 und 17 Minuten