The Mountain

The Mountain

Von Jörg Stodolka

Bei der transorbitalen Lobotomie wird dem Patient ein Stahlmeißel im Bereich der Augenhöhle ins Gehirn getrieben, um durch Zerschneiden des Nervengewebes eine Linderung der psychischen Auffälligkeiten zu bewirken. Schon wegen der garstigen Prozedur ist diese oft nur unter lokaler Betäubung durchgeführte Operation ein beliebtes Motiv in Horrorfilmen, in welchen Krankenhäuser und psychiatrische Einrichtungen der 40er und 50er Jahre mit ihrer oft romantisierenden wie bedrückenden Patina für angenehme Schauer sorgen. Man denke nur an Carpenters THE WARD, Verbinskis A CURE FOR WELLNESS oder Brad Andersons SESSION 9.
Wer Rick Alversons frühere Filme wie THE COMEDY (2012) und ENTERTAINMENT (2014) kennt, erahnt indes schon, dass jegliche Romantisierung das Letzte ist, was der 1971 geborene Musiker und Regisseur im Sinn hat, wenn er sich den Ereignissen in amerikanischen psychiatrischen Kliniken der 50er Jahre zuwendet. Und um Horror handelt es sich auch eher nur auf abstrakte Art, so wie schon THE COMEDY als auch ENTERTAINMENT nichts mit Komödie zu tun hatten. Die Bilder sind ihrer intensiven Farben beraubt. Der Stil ist nüchtern, dokumentarisch, teilnahmslos – der kalte, interessierte Blick eines Forschers durch eine Lupe. Und darunter liegt ein Mikrokosmos aus Kliniken und Krankenhäusern Amerikas – mit ihm die Psyche der amerikanischen Gesellschaft.

The Mountain 2Nach dem Tod seines Vaters folgt der junge Andy dem Arzt Wallace Fiennes durch die psychiatrischen Kliniken, um dessen Behandlungsmethoden fotografisch zu dokumentieren. Die Figur des von Jeff Goldblum grandios arrogant-kalt und geschäftstüchtig gespielten Arztes Fiennes basiert dabei lose auf dem realen Erfinder der transorbitalen Lobotomie Walter Freeman, der sogar noch nach immer deutlicher werdender Kritik an seiner Behandlungsmethode und dem Aufkommen der ersten Psychopharmaka an seinen Praktiken festhielt. Und so wird die Reise des ungleichen Teams immer beschwerlicher, weil es immer weniger gelingt, Kliniken zu finden, die Fiennes‘ Behandlungsmethode gegenüber noch aufgeschlossen sind. Bald behandelt Fiennes auch in Gemeindesälen oder auf Wunsch auch bei den besorgten Angehörigen Betroffener zuhause. Auf dem langen beschwerlichen Weg wird Andy seine erste Liebe finden, doch wie in einer pervertierten Version von Romeo und Julia mag sich kein Gefühl der Befreiung einstellen. Der – nicht nur figurative – Berg wird erklommen werden, doch bleibt das Schicksal der Protagonisten im kalten Nebel oberhalb schneebedeckter Baumwipfel verborgen.

The Mountain 4Rick Alversons im positiven Sinne unerträgliches Roadmovie ist eine Reise in die Seele Amerikas der 50er Jahre. Dabei entlarvt er das alltägliche Leben als einen Alptraum der Unfreiheit, in dem vor lauter Angepasstheit jegliche Emotionalität als Auffälligkeit gewertet und mit drakonischen Behandlungen bestraft wird. Tye Sheridan in der Rolle des Andy spielt in seiner Schüchternheit und Zurückhaltung eine Alversontypische Figur, die man am liebsten die ganze Zeit schütteln möchte. Seine ständig geduckte, unterwürfige Haltung hat etwas Unerträgliches. Unterstützt durch das fast quadratische Bildformat 1,37:1 überträgt sich das Gefühl der Enge und Begrenztheit auf den Zuschauer. Einzig im Betrachten von Eiskunstlauf scheint Andy einen Geschmack von Freiheit zu bekommen. Dass es sich selbst dabei um eine streng formalisierte, in eine starre Form gepresste Version menschlichen Ausdrucks handelt, entgeht ihm dabei.

THE MOUNTAIN ist in seiner Sektion der amerikanischen Gesellschaft das US-Pendant zu Hanekes DAS WEISSE BAND, auch wenn hier am Ende nicht Faschismus, sondern Kriege und endlich auch die Flower Power Ära stehen. Der Film liefert mit seiner Kryptographie einer Denkweise aber auch einen Kommentar zur aktuellen Situation, und das ist durchaus politisch zu verstehen – so als würde Alverson bewusst die Zeit bebildern, in der „America great“ war. Dafür sprechen auch immer wieder aktuelle Bezüge, die sich in das Bebilderte einschleichen. Mit dem Charakter Fiennes und der Situation in den psychiatrischen Kliniken jener Jahre seziert Alverson den sozialen Trend, mit guten Absichten voranzuschreiten, dabei jedoch die Konsequenzen des Handelns konsequent auszublenden. So wurden traumatisierte Kriegsveteranen Mitte des letzten Jahrhunderts wie alle anderen an der Gesellschaft Zerbrochenen einfach nur weggesperrt und damit aus dem nationalen Bewusstsein ausgeblendet, was jede kritische Diskussion vermied. Auch Fiennes verfolgt, so wohlmeinend er auch sein mag, konsequent und stoisch seinen barbarischen Weg.

The Mountain 1Mehr als im Vorgänger ENTERTAINMENT gibt sich Alversons THE MOUNTAIN den Anschein einer Narration, doch wird im Verlauf des Films immer mehr klar, dass dieses vermeintliche Versprechen keines war; der Film bleibt kryptisch, unnahbar, zwingt aber gerade dadurch zum Nachdenken. Eine bitterböse, in ihrer Gnadenlosigkeit fröstelnd machende Versuchsanordnung. Ein Meisterwerk.

Es war wieder mal ein kalter Tag in Rotterdam, als THE MOUNTAIN gezeigt wurde, doch nach Alversons eiskaltem Alptraum wirkte er wie Sommer.

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The Mountain, USA 2018 | Regie: Rick Alverson | Drehbuch: Rick Alverson, Dustin Guy Defa, Colm O’Leary | Kamera: Lorenzo Hagerman | Musik: Robert Donne | Darsteller: Tye Sheridan, Jeff Goldblum, Hannah Gross, Denis Lavant, Udo Kier, Annemarie Lawless u.a. | Laufzeit: 106 min.