Kino in Transition: Jorge Graus "Leichenhaus der lebenden Toten" und das Ende der alten Zeiten

Kino in Transition: Jorge Graus „Leichenhaus der lebenden Toten“ und das Ende der alten Zeiten

Von Bodo Traber

„I wish the Dead could come back to life, you bastard,
because then I could kill you again!“

Die Beatles haben sich getrennt, Stanley Kubricks Epochenfilm A CLOCKWORK ORANGE (1971) wird aus den Kinos genommen und für ein Vierteljahrhundert unter Verschluss gehalten, nachdem der fragile Sozialfrieden Großbritanniens durch eine Welle von Jugendgewalt erschüttert wurde. Die Swinging Sixties sind zu Ende im England der neuen konservativen Ära. Und als der Kunsthändler George (Ray Lovelock) zu Beginn von Jorge Graus in Sitges preisgekröntem Schocker NO PROFANAR EL SUEÑO DE LOS MUERTOS (‚Entweihet nicht den Schlaf der Toten!’) (1974) seinen kleinen Laden in Manchester schließt, um ein Wochenende auf dem Land zu verbringen, von dem er nicht – oder vielmehr nicht lebend – wiederkehren wird, weil sich infolge eines Experiments des Landwirtschaftsministeriums die Toten erheben, liegt bereits ein apokalyptischer Schatten über der urbanen Zivilisation. Mit der Ästhetik des Cinéma Vérité fängt die Kamera dokumentarische Bilder ein, die zugleich düster prophetisch wirken: Abfallberge türmen sich in trostlosen Industrie-Landschaften, Emissionen und Kühlwasserdämpfe steigen aus Fabriken und Atommeilern auf, tote Tiere liegen auf den Straßen und die Pendler in den überfüllten Nahverkehrsmitteln tragen Atemschutzmasken. Und – wie eine Erinnerung an vergangene Zeiten des Sex und Rock’n’Roll – irgendwo dazwischen die Aufnahme eines ‚Flitzers’, eines Hippie-Mädchens, das nackt über die Straße läuft und dabei seltsam verloren wirkt.

KinoInTransition_PlakatOn Location in Manchester und der Gegend um den Lake Windermere sowie auf dem historischen Friedhof von Hathersage (und in Studios in Rom und Madrid) gedreht, gab sich die spanisch-italienische Koproduktion – hierzulande als DAS LEICHENHAUS DER LEBENDEN TOTEN bzw. INVASION DER ZOMBIES veröffentlicht – die lange beliebte Anglo-Mimikry. Eine farbige Imitation von George Romeros NIGHT OF THE LIVING DEAD (1968) sollte es nach Wunsch der (italienischen) Produzenten werden. Tatsächlich markieren beide Filme einen Angelpunkt in der Entwicklung des Genres. Wie im klassischen Vorbild war die innovative Kargheit, mit der der Film die Tradition des ‚Gothic horror’ abschüttelte und sich des Themas in alltäglichem Setting und (quasi-) dokumentarischem Stil annäherte, natürlich durch das geringe Budget begründet. Aber wie dort scheint der Zombie-Alptraum gerade durch diese Reduktion nur das Ende einer zeitgenössischen Gesellschaft zu beschreiben, die sich ohnehin in Auflösung befindet. Obwohl sich einige Elemente nahezu unverändert wiederfinden – als der erste Wiedergänger die Protagonistin Edna (Christine Galbo) attackiert, flüchtet sich diese in ein Auto, mit dem sie jedoch nicht wegfahren kann, da der Zündschlüssel fehlt – , gelang Jorge Grau ein genuines Produkt des europäischen Horrorkinos, das klassische Mythen, surrealistische Tradition und einen der Nouvelle Vague entlehnten ‚stilisierten Realismus’ vereint. Von F.W. Murnaus NOSFERATU (die sich klappmesserartig aus dem Sarg erhebenden Untoten) bis M. Antonionis BLOW UP (die Fotografie als zweite Ebene der Wirklichkeit) reichen die erkennbaren Einflüsse. Und im Gegensatz zur eher symbolischen ‚Erklärung’ der Wiederkehr der Verstorbenen in Romeros Trendsetter wirkt die zur Zeit seiner Entstehung noch absurde Maschine (gespielt von einem Mähdrescher), die mittels Ultraschall Schädlinge vernichten soll und unschöne Nebenwirkungen auf das Nervensystem von Toten und Babies nach sich zieht, heute wie eine neumodische Normalität aus Nachbars Garten.

KinoInTransition_1Der lange zu den berüchtigten ‚Video Nasties’ gerechnete Film gilt international als der bekannteste des Catalanen Jorge Grau (1930-2018), dessen bahnbrechende Bedeutung als Filmemacher hingegen bis heute außerhalb Spaniens kaum zur Kenntnis genommen wurde. Sein legendärer LA TRASTIENDA (1976) ist dort noch immer der berühmteste Film seiner Epoche, die als ‚El destape’ (‚Entblößung’) in die Filmgeschichte einging, weil er erstmalig auf einer spanischen Leinwand eine nackte Frau von vorn zeigte. Graus Arbeiten entstammen mehreren Phasen der Zeit der Transición – des Übergangs von der Diktatur des ‚Caudillo’ Franco zur Demokratie, die im Wandel der Kultur schon einige Zeit vor dem Tod des Diktators 1975 einsetzte. In den späten 60ern und frühen 70ern hatte Spanien aus wirtschaftlichen Gründen begonnen, sich zunächst für den Tourismus zu öffnen. Mit den sonnenhungrigen Ausländern kamen die ‚Suecas‘ (‚Schwedinnen‘): Blonde Wunder mit Riesenbrüsten und freizügiger Sexualmoral, die die einheimische Bevölkerung nachhaltig beeindruckte. Die ersten Destape-Filme – im wesentlichen waren es erotische Komödien, die schrittweise freizügiger wurden – entstanden als Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel schon ab 1970, gleichsam als dosierte ‚Liberalisierung’. Nach Francos Tod gab es kein Halten mehr, die männliche Bevölkerung Spaniens gierte nach nackten Mädchen. Angeblich sahen sich die Leute Filme wie LA TRASTIENDA gleich mehrmals an, um Freunde zu begleiten. Die Schauspielerin Maria José Cantudo, die ihr Debüt in Carlos Aureds Horrorfilm EL ESPANTO SURGE DE LA TUMBA (BLUTMESSE FÜR DEN TEUFEL) (1972) gegeben hatte, wurde mit Graus Kassenknüller zur nationalen Ikone. Einige Jahre zuvor war es dem Regisseur gelungen, die Zensur zu unterlaufen und mit seinem vielschichtigen CEREMONIA SANGRIENTA (‚Blutfest’) (1971) eine Replik gegen totalitäre und dogmatische Herrschaftsformen in Gestalt eines historischen Horrorfilms in die Kinos zu bringen. Mit der authentischen Nacherzählung der Legende um die vampirische Feudalherrin Erzebeth Bathory, die mit dem Blut ihrer Untertanen ihre Jugend zu erhalten sucht, bis man sie lebendig einmauert, findet noch unter der Diktatur der Klassenkampf ins spanische Genre-Kino.

KinoInTransition_2Am deutlichsten aber kulminieren die gesellschaftlichen Gegensätze in NO PROFANAR EL SUEÑO DE LOS MUERTOS, der im Kern einen Generationenkonflikt schildert, der die britische Gesellschaft ebenso betraf wie die spanische (und dem in NIGHT OF THE LIVING DEAD thematisierten Rassenkonflikt mindestens gleichkam). Für die ergrauten Väter, die eine Zeit der Zucht und Ordnung sozialisiert hatte, wurde der scheinbare Werte- und Moralverfall im freigeistigen und promiskuitiven Lebenswandel der Kinder zu einer Verhöhnung dessen, wofür sie selbst standen. Eine ganze Epoche an Horrorfilmen spiegelt diesen Gegensatz; am emblematischsten der konservative THE EXORCIST (1973) (und dessen Imitationen), in dem sich ein lieber (und keuscher) Teenager unter dämonischem Einfluss in ein Obszönitäten deklamierendes und Körpersäfte speiendes Ungetüm verwandelt. In Graus Entwurf einer sozialen Implosion in ökologischem Gewand (in deren Verlauf die Neugeborenen den Säuglingsschwestern die Augen auskratzen und – vermutlich – verzehren) stoßen die jungen Protagonisten George und Edna nicht nur auf eine Mauer des Unverständnisses, sondern der offenen Feindschaft bei der zu Hilfe gerufenen Polizei in Gestalt des von Arthur Kennedy verkörperten, faschistoiden Kriminalbeamten, für den der Verdacht der Täterschaft an den vorgefallenen Bestialitäten auf die jungen Leute und deren Ablehnung der bestehenden Verhältnisse zurückfällt. An lebende Tote glaubt er nicht. Lange Haare, schwule Kleidung, Sex und Drogen und ein unverhüllter Hass auf die Polizei als Instrument des Obrigkeitsstaates lassen die Jungen als Vertreter einer (De-)Generation erscheinen, der man von Satanismus bis Kannibalismus alles zutrauen kann.

KinoInTransition_3Arthur Kennedy (1914-1990) kam als einer jener gealterten US-Stars zu dem Projekt, die das europäische Kino zur Aufbesserung seiner Zugkraft für Genre-Produktionen in den Bereichen Western und Giallo einkaufte, und war in den 1970ern in einer ganzen Reihe italienischer Polizei- und Horrorfilme, darunter Alberto de Martinos L‘ANTICRISTO (DER ANTICHRIST) (1974), zu sehen. Er habe die Aura einer vage aggressiven Frustration, die den Schauspieler selbst umgeben habe, in die Figur einfließen lassen wollen, erzählt Jorge Grau im Interview. Und wahrhaftig agiert Kennedy hier mit einer für diese Spätphase seiner Karriere seltenen Intensität. Persönlicher Hass auf die Gesellschaft scheint die Figur anzutreiben, die der Aufweichung der Ordnung schon im kleinsten Detail vehement entgegentritt. In seiner ersten Szene weist er einen jungen Polizisten schroff an, seine Uniform korrekt zuzuknöpfen; eine Volte, für die augenscheinlich die Figur des Captain Queeg in THE CAINE MUTINY Inspiration war. Und mit konsequenter Verblendung übersieht er im Lauf der Massaker alle Hinweise auf das Offensichtliche; dass die Toten wiederkehren, sich durch Ansteckung fortpflanzen, um die Lebenden zu fressen. Und während die faschistische Bürgerwehr in Romeros Vorläufer noch versucht, den Verfall der Zivilisation zu verhindern, verfolgt der Sergeant die aus seiner Sicht für die Degeneration der Ordnung Verantwortlichen aus persönlichen Ressentiments. Er würde sich wünschen, die Toten kehrten wirklich wieder, erklärt er über die Leiche Georges gebeugt, damit er diesen ein weiteres Mal erledigen könne.

Sein Wunsch geht zumindest teilweise in Erfüllung, doch dieses Mal ist es ein Untoter, der Rache nimmt. Und mit seltener Konsequenz in der Geschichte des Genres lädt ein Horrorfilm zur Empathie und Identifikation mit einem Zombie ein – und zum gemeinsamen Sturm auf das Establishment.

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Der Regisseur Jorge Grau, der außerhalb Spaniens leider fast völlig unbekannt blieb, verstarb Weihnachten 2018 in Madrid im Alter von 88 Jahren.