Wir

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Von Oliver Schäfer

Jeremiah 11:11 – Darum siehe, spricht der HERR, ich will ein Unglück über sie gehen lassen, dem sie nicht sollen entgehen können; und wenn sie zu mir schreien, will ich sie nicht hören.
Us_PosterZu Beginn des Films werden wir mit der Information versorgt, dass es Tausende Meilen von Tunneln unter den kontinentalen USA gibt, von denen bei vielen kein Zweck bekannt ist. Warum müssen wir das wissen? Abwarten…
Santa Cruz, 1986. Die kleine Adelaide Thomas, hip bekleidet mit einem Michael-Jackson-Thriller-T-Shirt, besucht mit ihren Eltern einen Vergnügungspark am Strand. Dort wandert sie an einem offenbar obdachlosen Mann vorbei, der ein Schild mit der Aufschrift „Jeremiah 11:11“ trägt. Ohne dass ihre Eltern es bemerken, betritt sie kurze Zeit später ein Spiegelkabinett, in dem sie eine erschreckende Erfahrung macht. Als Adelaide gefunden wird, wirkt sie verschreckt und spricht nicht mehr. Ihre Eltern bringen sie wegen des offensichtlichen Traumas zu einem Therapeuten, der ihnen vorschlägt, Adelaide zum Zeichnen, Singen oder Tanzen zu ermutigen, um ihre Gefühle auszudrücken und wieder zu sprechen.
Heute. Die erwachsene Adelaide fährt mit ihrem Mann Gabe Wilson und den Kindern Zora und Jason zum Strandhaus ihrer Familie in Santa Cruz. Adelaide fühlt sich unwohl, da der Ort sie unweigerlich an die Geschehnisse aus ihrer Kindheit erinnert. Gabe wünscht sich jedoch einen entspannten Urlaub und wischt Adelaides Bedenken kurzerhand beiseite. Am Strand treffen sie sich mit ihren reichen Freunden Josh und Kitty Tyler. Dort sieht der kleine Jason, der gern Monstermasken trägt, einen Mann im roten Overall mit bluttriefenden Händen allein am Strand stehen, erzählt aber niemandem davon.
Us_4In der Nacht erscheint eine seltsame vierköpfige Familie in der Einfahrt des Ferienhauses. Gabe versucht sie zu vertreiben, aber sie greifen ihn an und dringen ins Haus ein. Schockiert erkennen die Wilsons, dass sie quasi von ihren Doppelgängern überfallen werden. Angeführt wird die Gruppe von Red, der Zweitausgabe von Adelaide. Alle tragen den gleichen roten Overall wie der Mann am Strand und alle sind ausgerüstet mit einer überdimensionalen Schere. Jasons Doppelgänger Pluto trägt eine Gesichtsmaske. Gabes Doppelgänger Abraham stößt unartikuliertes Gebrüll aus, während Zoras Gegenpart Umbrae lediglich bedrohlich irre grinst. Red ist die einzige, die spricht, wenn auch in einer sehr eigenartigen, angestrengten Art und Weise. „Wer seid ihr?“ fragt Adelaide. „Wir sind Amerikaner!“ presst Red mit erstauntem Gesichtsausdruck hervor.
Dann erzählt sie die Geschichte eines Mädchens, das ein glückliches Leben führt, während ihr Schatten leidet. Dem Schatten wird jede Liebe und Gesellschaft verweigert. Der Schatten hasst das Mädchen und schwört Rache. In diesem Moment ist klar, dass es hier um Leben und Tod gehen wird, und die Familie macht sich bereit zur Flucht. Doch sie sind nicht die einzigen, denen merkwürdige Dinge passieren…
Us_2Jordan Peele, dessen Debutfilm GET OUT vor zwei Jahren für viel Wirbel und volle Kassen sorgte, hat mit seinem zweiten Streich erneut einen ausgesprochen cleveren Thriller geschaffen. Wer nach dem liberalen Alltagsrassismus-Horror GET OUT auch bei WIR einen Film über Rassenprobleme erwartet hat, wird hier überrascht feststellen, dass trotz der überwiegend schwarzen Besetzung die Hautfarbe für diese Geschichte praktisch keine Rolle spielt. Gesellschaftskritisch gibt sich Peele jedoch auch mit seiner zweiten Regiearbeit.
Der Film lässt sich zwar nur schwer kategorisieren, dafür kann man umso trefflicher über seine Bedeutung philosophieren – angefangen beim Originaltitel „US“, der den deutschen Titel „WIR“ meinen, der sich aber auch auf die United States = US beziehen könnte. Haben wir eine dunkle Seite, die sich an verborgenen Orten manifestiert? Seziert Peele hier die sich ständig weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich oder – filmisch treffender – zwischen Ober- und Unterschicht? Diese Doppeldeutigkeit zieht sich durch den gesamten Film, vermengt mit allerhand Merkwürdigkeiten, deren Deutung ebenfalls ein spannender Zeitvertreib wäre.
Was bedeutet der Hinweis auf Jeremiah 11:11 und das wiederholte Auftauchen dieser Zahlenkombination quer durch den ganzen Film? Was verbirgt sich hinter dem Spiegelkabinett und warum ist der Film mit massenhaft Kaninchen bevölkert?
Im Verlauf des Films finden sich Anklänge zu DER WEISSE HAI, DIE KÖRPERFRESSER KOMMEN, ROSEMARYS BABY, FUNNY GAMES und THE TWILIGHT ZONE wieder – letztere wird zufällig gerade von Peele für den Streamingdienst CBS All Access wiederbelebt.
Us_1Seine Schocks – und die fallen hier erheblich blutiger aus als in GET OUT – wechseln sich ab mit traumwandlerischen Sequenzen, Verfolgungsjagden und mitunter schreiend komischer Satire. Und Jordan Peele schafft es dabei völlig überzeugend, diese gegensätzlichen Elemente zusammenzuhalten und ein stimmiges Gesamtwerk aus ihnen zu schaffen, indem er sich anfangs Zeit lässt für die Einführung und Entwicklung seiner Charaktere. Kleine Zankereien zwischen den Kindern, die Abneigung Gabes und Adelaides gegen die reichen Tylers, Streitgespräche am Essenstisch, gemeinsamer Gesang während der Anreise – lauter Kleinigkeiten, die jedoch die Charaktere formen und Aufmerksamkeit auf prägnante Details der einzelnen Personen richten.
Das Ganze steht und fällt mit einem exzellenten Ensemble, angeführte von einer doppelten Lupita Nyong’o, die eine erschreckend überzeugende Darstellung beider Rollen abliefert. Winston Duke, Shahadi Wright Joseph und Evan Alex müssen sich dahinter allerdings nicht verstecken. Auch Elisabeth Moss brilliert als ständig saufendes und ihren Mann herumkommandierendes Luxusweibchen.
Neben den Darstellungen besticht der Film durch seine technischen Aspekte, allen voran die elegante, zum Teil beinahe tänzerische Kameraführung von Mike Gioulakis, der sich nach IT FOLLOWS, SPLIT und GLASS langsam zu einem der interessantesten heute arbeitenden DPs entwickelt hat. Einen ebenso großen Anteil an der Stimmung des Films hat der beunruhigende Score von Michael Abels (GET OUT), dessen Titelthema mit seiner Verwendung menschlicher Stimmen sicher nicht von ungefähr an Jerry Goldsmiths Hymne „Ave Satani“ aus DAS OMEN erinnert und der strategisch mit zum Teil brüllend komischer Effektivität von diversen Songs unterstützt wird.
Jordan Peele hat hier zum zweiten Mal einen erstklassig durchkomponierten Thriller abgeliefert, der in gleichem Maße Hirn, Herz und Zwerchfell auf Trab hält. Ein echter Genuss und ein wunderbar abwechslungsreiches Highlight in der aktuell eher gleichförmigen Blockbuster-Filmlandschaft.

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US, USA 2019 | Regie: Jordan Peele | Drehbuch: Jordan Peele | Kamera: Mike Gioulakis | Schnitt: Nicholas Monsour | Musik: Michael Abels | Darsteller: Lupita Nyong’o, Winston Duke, Shahadi Wright Joseph, Evan Alex, Elisabeth Moss, Tim Heidecker, Yahya Abdul-Mateen II, Anna Diop, Madison Curry, Ashley McKoy | Laufzeit: 116 Min.