Wir sind jung. Wir sind stark.

Wir sind jung. Wir sind stark.

Von Matthias Ehrlicher

Es ist immer wieder großartig zu sehen, wie aktuell ein Film sein kann – wenn man bedenkt, dass es im Schnitt drei bis zehn Jahre dauert, einen Kinofilm zu realisieren. Dann noch nahe am Puls der Zeit zu sein, gerade, wenn er Ereignisse schildert, die wie in diesem Fall über zwanzig Jahre her sind, das grenzt schon an ein Wunder. Dieses Wunder gelingt Regisseur Burhan Qurbani und Autor Martin Behnke mit ihrem Film WIR SIND JUNG. WIR SIND STARK. beeindruckend und erschreckend zu gleich.

Cover-STARKDer Präsident des Europaparlaments Martin Schulz sagte in diesem Sommer, er könne die Reden, die er in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts gehalten habe, heute unverändert wieder vortragen. Angesichts der Flüchtlingsdramen, die sich abspielen, dem Versagen der Obrigkeiten und der rechten Kriminellen, angefeuert vom Mob aus der Nachbarschaft, die den Hilfesuchenden ihre Würde und ihr Recht auf Schutz verweigern. Genau davon erzählen Qurbani und Behnke. Nur sprechen wir im Falle ihres Films nicht von Europa im Jahre 2015, sondern von Rostock-Lichtenhagen 1992.

Akribisch, fast protokollhaft erzählt der Film aus drei fiktiven Perspektiven, was am 24. August 1992 in Rostock passierte. Stellenweise auch, warum. Da ist der überforderte Lokalpolitiker Martin (Devid Striesow), der angesichts der tagelangen fremdenfeindlichen Ausschreitungen vor der Asylbewerberunterkunft „Sonnenblumenhaus“ versucht die Ordnung irgendwie aufrecht zu erhalten. Alle spüren, dass sich die Situation gefährlich zuspitzt. Er quält sich mit seiner Hilflosigkeit, Parteiquerelen, administrativem Zuständigkeitsgerangel und sitzt deshalb lieber im Garten auf der Rudermaschine als etwas zu tun. Den Kontakt zu seinem Sohn Stefan (Jonas Nay) hat er schon lange verloren.

STARK-04Dieser hat gerade die Schule beendet und hängt orientierungslos im Postwende-Rostock mit seiner Clique ab. Sie sind sich sicher, nachdem das Asylantenheim schon mehre Tage lang vom Mob belagert wurde – heute Nacht ist Showdown. Das wollen sie sich nicht entgehen lassen. Alles, auch die Freundschaft, ist in dieser Zeit in Auflösung, in ungewollter Veränderung begriffen. Keiner weiß, wie es weitergeht oder was sie tun sollen, um etwas zu ändern. Sie fühlen sich nicht nur altersbedingt fremdbestimmt. Wo sind die blühenden Landschaften, die man ihnen und ihren Eltern versprochen hatte? Hier sind nur Arbeitslosigkeit und die Erinnerungen an ein Scheitern. Des eigenen und das eines Staates.

Die Truppe wird von einem überzeugten Neonazi zusammen gehalten, aber rechtes Gedankengut treibt sie nicht an. Eher Bier, Mädchen, Ablenkung und der Versuch, sich an irgendetwas festzuhalten, das nicht gleich wieder zerbricht. „Du gehörst nicht hierher“, wird ein Kumpel gleich zu Anfang zu Stefan sagen. Der Kumpel gibt sich als strammer Nazi, trauert aber dem Sozialismus nach und wird sich bald darauf das Leben nehmen. Nichts passt in diesem Leben für die Jugendlichen zusammen. „Total frei sein bedeutet total alleine sein“. Stefan trudelt, taumelt passiv vor sich hin. Was dem Film dramaturgisch nicht guttut – es gibt zu viele passive Figuren – , aber aus Sicht des Jungen nachvollziehbar ist.

STARK-05Er fühlt sich nicht wohl in der Gruppe, aber es gibt keine wirklichen Alternativen. In eine Szene wird Stefan von einer alten Schulfreundin gefragt, ob er links oder rechts ist. Er antwortet genervt, er sei „normal“. Was für sie automatisch „rechts“ bedeutet. „Was hast du für ein Problem? Kann man nicht einfach normal sein?“ Der Blick, der sie als Punkerin ausweist, sagt eindeutig: Nein.

Er ist ein Außenseiter, allein schon wegen seines gutbürgerlichen Elternhauses. Und so kommt es, wie so oft, dass der Außenseiter gnadenloser agiert, um es den Freunden, aber vor allem sich selbst zu beweisen. Also wird er in der Nacht den ersten Molotowcocktail in das in diesem Moment bewohnte Wohnheim werfen. Der Mob feiert ihn frenetisch. Zum ersten Mal seit langem fühlt Stefan sich gut. Sein Vater steht getarnt in der Menge. Zuerst hat er noch versucht, der „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“ grölenden Masse ein „Wir sind das Volk“ entgegen zu halten. Doch kaum einer aus der Menge schließt sich an. Er geht unter. Als Martin sieht, wie sich sein Sohn auf dem brennenden Balkon von den Massen feiern lässt, hat er keine Kraft mehr einzugreifen.

STARK-02In dem Haus lebt die Vietnamesin Lien (Trang Le Hong) mit ihrer Familie. Sie gehörten in der DDR zu den so genannten „Vertragsarbeitern“ aus dem „sozialistischen Bruderland“. Nach der Wende wurden sie zu Tausenden abgeschoben, weil sie wie viele in den Neuen Ländern arbeitslos wurden. Ganz egal, wie lange sie schon hier lebten. Lien will das nicht hinnehmen. Sie kämpft um ihre Arbeitserlaubnis und stellt sich damit gegen ihre Familie. Die will ausreisen, da sie sich in Deutschland bedroht und nicht wertgeschätzt fühlen. „Schlitzies“ ist noch das Netteste, was sie zu hören kriegen. Aus dem Mund des Kindes ihrer Kollegen geäußert kann Lien sogar darüber lachen. Leider gelingt es dem Film-Team nicht, mit dieser, von allen die interessanteste, Figur mehr zu erzählen. Denn sie ist in jeder Hinsicht die mit dem größten Konflikt- und Handlungspotential. Von den Deutschen angefeindet, in der Familienhierarchie eingesperrt, um Selbstbestimmtheit bemüht, kämpfend und um Integration ringend. Sie hat Arbeit und darf bleiben. Ein Pseudogrund mehr für die Eingeborenen, sie zu hassen. Ein geschickter Schachzug der Macher ist es aber, auch ihr einige „rechte“ Haltungen zu geben. Wegen des Krieges auf dem Balkan ist das Flüchtlingsheim in Liens Nachbarschaft, gegen das sich der Hass der Anwohner richtet, völlig überfüllt. Flüchtlinge müssen im Vorgarten schlafen, essen, sich erleichtern. Wie sich die Bilder gleichen. Auch Lien hält die Kriegsopfer für Abschaum. Sie kann verstehen, dass sich ihre Nachbarn über sie aufregen und protestieren. Das Schicksal dieser Menschen interessiert auch sie nicht.

Am Mittag, bevor das Haus von Lien brennt, hat der Lokalpolitiker Peter (Thorsten Merten) auf eigene Faust die Flüchtlinge in Umfeld des „Sonnenblumenhauses“ evakuieren lassen. Doch die Hoffnung, dass die Situation sich jetzt beruhigt, führt ins Leere. Die Menge fühlt sich um ein Schauspiel betrogen. Also geht man ein Haus weiter. „Kanaken“ oder „Schlitzies“ ist doch eh wurscht, es gibt Freibier.

Es ist faszinierend zu sehen, wie das Team es schafft, die Zeit, die Atmosphäre vor Ort einzufangen. Kostüm und Ausstattung sind exzellent. Auch Yoshi Heimraths Kameraführung ist beeindruckend. Im ersten Teil des Films, in dem es hauptsächlich um die Clique geht, filmt er aus der Hand, bleibt nahe bei den Kids. Durch die schwarzweiße Bildgestaltung entsteht eine Verfremdung, die den Zuschauer bei aller Nähe auf Abstand hält. Die Zeit wirkt historisiert, vergangen, fremd und könnte doch aktueller nicht sein. Wenn es zur nächtlichen Attacke kommt, wird auf „Farbfilm“ gewechselt. Da sind wir im Hier und Jetzt. Wenn die Freunde auf Adrenalin und Bier Fernsehinterviews geben, wechselt der Film zwischen dem damaligen Fernsehformat und dem Filmformat hin und her. Da sind wir wieder Zuschauer und genau da, wo wir bei den Ereignissen damals auch waren, vor dem Fernseher. Und heute sind wir es wieder.

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Wir sind jung. Wir sind stark., Deutschland 2014, R: Burhan Qurbani, D: Jonas Nay, Trang Le Hong, Devid Striesow, Joel Basman, Saskia Rosendahl, Paul Gäbler, David Schütter, Jakob Bieber, Gro Swantje Kohlhof, Mai Duong Kieu, Aaron Le, Larissa Fuchs, Axel Pape

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