Me Too

Me Too

Von Reda

Alexei Balabanows vierzehnter Film ME TOO ist Nachlass und philosophisches Kernstück zugleich, sein STALKER fürs einfache Gemüt. Er sagte, dass er damit ein neues Genre, den fantastischen Realismus, erfunden habe: “Es gibt keine Dekorationen, alles ist real, die Charaktere spielen sich selbst. Lediglich die Geschichten, die sie in ihren eigenen Worten erzählen, habe ich geschrieben.”

In einer radioaktiv verstrahlten Zone herrscht wortwörtlich der nukleare Winter. Im Zentrum der Zone steht ein Glockenturm: Manch einer, der ihn betritt, wird “wegtransportiert” ins Glück, manch anderem wird dies verwehrt. Sanya und Oleg pilgern mit dem Auto dahin, hoffen, dass sie zu den Auserwählten gehören. Sie entführen ihren Kumpel Matvey aus der Entzugsklinik und packen auch noch dessen Vater ein. Unterwegs lesen sie die Hure Lyuba beim Trampen auf. Die Zone wird zwar vom Militär bewacht, doch jeder darf hinein. Am verschneiten Straßenrand liegen vereinzelt Leichen. Zwei Pilger sterben an der Strahlung, bevor sie ans Ziel gelangen. Als die anderen Drei den Turm erreichen, werden Zwei sofort beim Betreten wegtranportiert. Der Dritte betritt den Turm, aber kommt wieder raus. Die Reise ins Glück ist ihm nicht vergönnt. Er muss auf den Strahlentod warten.

ME TOO hat das erzählerische Potenzial eines Kurz- oder maximal mittellangen Films; kein Spannungsbogen, kein klassischer Dreiakter mit Plotpoint nach zwei Drittel der Geschichte. ME TOO fängt an und hört auf. Dann sind alle tot (oder im Glück).

me.too.2012.coverDie komplette erste halbe Stunde zeigt, wie die Pilger zusammenpacken, fast schon Steadycam-Verschwendung für Leute, die Taschen holen. Auch im weiteren Verlauf passiert nicht wirklich etwas. Alle Personen sind desillusioniert, vom Leben gelangweilt. Es ist eher, als würden sie zum Massensuizid fahren als ins Glück. Wie schon im Vorgänger STOKER wird nicht viel geredet, und wenn, dann nur Banalitäten. Keine intellektuellen Diskurse wie in STALKER, keine Gespräche mit Gott wie in OSTROV. ME TOO ist die Proleten-Symbiose aus beiden Filmen, Balabanows filmischer Abschied, deshalb hat er hier auch einen Gastauftritt. Er wusste, dass er selbst bald sterben würde, das war nicht prophetisch, sondern sein generell schlechter Gesundheitszustand. Seine Filme waren immer autobiografisch gezeichnet, zeigten immer seine oder generell die russische Befindlichkeit von 1991 (HAPPY DAYS) bis 2012 (ME TOO). Sein Status als Kultregisseur rührte nicht nur vom Erfolg seiner zwei BROTHER-Filme her, eher, weil er ein Chronist des russischen Zeitgeistes war. Er hat zwar noch ein Drehbuch vorbereitet, aber das war nur das vage Hoffen auf einen erneuten Film, bevor er am 18.5.2013 verstarb.

Sterben war bei Balabanow immer banal. Auch in ME TOO: Die Menschen fallen einfach in den Schnee, kein Geröchel, keine Pusteln, kein Leid, kein Pathos, kein Brimborium, denn auch das Leben war nichts wert. Diese fast schon apathische Traurigkeit durchzieht den Film von der ersten bis zur fünfundsiebzigsten Minute, bevor der Abspann ohne Musik rollt. Die südlichen Gitarrenklänge, die auch schon den Winter in STOKER begleitet haben, sind auch in ME TOO den ganzen Film über im Hintergrund zu hören. Sie sind nicht ganz so fröhlich wie im Vorgänger, aber auch nicht wirklich düster: Das ist Balabanows schwarzer Humor. Trotz der Traurigkeit ist da einiges an Selbstironie in seinem letzten Film. Der Name der Hure ist Lyuba, das ist die Abkürzung von Lyobov (Liebe). Als der Liebe gesagt wird, Frauen dürften nur nackt in die Zone, damit sie wegtransportiert werden können, zieht sie sich aus und läuft nackt durch den Schnee, bis ihr Stunden später gesagt wird, dass das nur ein Scherz war. Balabanow war nie wirklich nett zu seinen Figuren, doch ME TOO ist da ähnlich wie IT DOESN’T HURT ME: (Fast) keine Gewalt mehr. Eine Frau unter vier Männern? Das muss böse enden. Tut es aber nicht, kein Funken Lust liegt da in der Luft, jenseits des Nacktspäßchens sind die nonstop saufenden Männer ihr gegenüber fast zuvorkommend. Mitten in der Zone begegnen die Pilger einem Fernseh-Hellseher (gespielt von Balabanows Sohn Peter), den sie ein Stück im Auto mitnehmen. Natürlich fragen sie ihn, wer wohl von ihnen auserwählt fürs Glück sei. Er sagt es ihnen ganz trocken, verrät somit das Ende des Films und steigt wieder aus. Auch der Glückstransport ist simpel, aber effektiv: Menschen gehen in den Turm, Kameraschwenk nach oben, ein kurzer Rauchschwaden und schon sind sie weg. Nur Sanya kommt wieder raus. Vor dem Glockenturm sitzt noch ein anderer, ein gewisser Alexei Balabanow, Filmregisseur. Auch ihm hat der Turm den Abtransport ins Glück nicht gegönnt. Der Hauptdarsteller und der Regisseur unterhalten sich.
– “Aber ich will doch nur Glück.”
– “Ich auch.”
Dann sterben sie.

Erschienen auf Der breite Grat

Zuerst veröffentlicht in Splatting Image #95, September 2013.

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Ya tozhe khochu (Mee Too), Russland 2012. | Regie/Buch: Alexei Balabanow. | Mit: Oleg Garkusha, Juri Matveyew, Alexander Mosin, u.a. | Laufzeit: 80 Min., noch ohne deutschen Verleih.